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Senioren als Internetstars: Ein chinesisches Pflegeheim geht viral

2024-05-14 15:03:00 Source:german.chinatoday.com.cn Author:Huang Yuhao
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„Action!“: Heimbewohner bei der Aufnahme eines Videoclips. (Foto mit freundlicher Genehmigung des Jingya-Pflegeheims) 


„Manche Eltern vergleichen ihren Nachwuchs immer mit dem anderer Leute. Sich mit anderen Eltern zu vergleichen, kommt ihnen nicht in den Sinn.“ Mit diesem markigen Schlussstatement ist der neueste Videoclip aus dem Pflegeheim endlich im Kasten. Zuvor hatten immer wieder kleinere Patzer für Amüsement am Mini-Set gesorgt. Der Regisseur sieht es gelassen. Er lacht gemeinsam mit seinen betagten Laiendarstellern. Schließlich handele es sich hier nicht um eine bierernste Bühnenprobe oder ein professionelles Filmset, sagt er, sondern um einen Social-Media-Dreh. Und da stehe Spaß an erster Stelle. 

 

Location des Drehs ist das Jingya-Pflegeheim in der chinesischen Metropole Tianjin, unweit von Beijing. Die Idee zu der ungewöhnlichen Freizeitbeschäftigung für die Bewohner kam von der Heimleitung, die mit dem Videoprojekt etwas Schwung in den Heimalltag bringen wollte. Seit April letzten Jahres wird so nun schon fleißig gedreht. Fast eine Million Follower habe man seither generieren können, und über sechs Millionen Likes, vor allem auf Douyin, der chinesischen Version von TikTok. 

 

Maßgeschneiderte Rollen 

 

Den zündenden Einfall hatten einst Heimleiter Chen Yuan und Chen Zhuo, ein ehemaliger Angestellter der Generation Z. Als er im Pflegeheim seines Onkels arbeitete, bemerkte Chen Zhuo, dass die Senioren zwar gut versorgt, aber etwas lustlos waren. Um das Stimmungsbarometer zu heben, beschlossen Chen und sein Freund Feng Yan, Kurzvideos gemeinsam mit den Heimbewohnern abzudrehen. 

 

Die Figuren, die sie schufen, schnitten die jungen Filmemacher dabei passgenau auf die Senioren und ihre einstigen Berufe zu. Die neunzigjährige Yu Youfang beispielsweise war früher Chemielehrerin an einer Oberschule und schlüpfte daher in die Hauptrolle der Serie „Chemieunterricht“, die online schnell vielfach geteilt wurde. Yus Heimmitbewohner übernahmen die Rolle der Schüler, gekleidet in Schuluniformen, die ihnen ihre Enkelkinder zur Verfügung gestellt hatten. 

 

Die Zuschauer erwartete allerdings kein normaler Chemieunterricht, sondern jede Menge schwarzer Humor. In einer der beliebtesten Episoden bittet Yu zwei ihrer Schüler, durch das Schnüffeln an zwei Flaschen Kohlenmonoxid von Kohlendioxid zu unterscheiden. Nachdem die Probanden die Gase inhaliert haben, stellt Yu trocken fest: „Wir sehen jetzt, dass der Schüler, der neben mir steht, die Flasche mit dem Kohlendioxid in der Hand hatte. Sein Mitschüler, der an der giftigen Kohlenmonoxid-Flasche geschnüffelt hat, wird gerade auf einer Bahre abtransportiert.“ Yu kann sich selbst ein Lachen nicht verkneifen, als sie zu dem Schluss kommt: „Auch zu Hause kann es zu Todesfällen durch ein Gasunglück kommen!“ Die Chemie-Gags kommen an beim jungen Publikum im Internet und es gibt jede Menge bissige Kommentare. „Yus Klasse scheint vor allem durch ihren überdurchschnittlichen Schülerverschleiß hervorzustechen“, unkt einer der Follower. 

 

Der Humor der Senioren trifft offensichtlich einen Nerv beim jungen Publikum, insbesondere ihr augenzwinkernder Umgang mit dem Thema Tod. Statt mit erhobenem Zeigefinger Lebensweisheiten vom Stapel zu lassen, setzen die Oldies auf Themen, die das junge Publikum abholen. 

 

In einer anderen beliebten Serie der betagten Filmemacher über Lebenslektionen wird die Wichtigkeit eines respektvollen Umgangs miteinander thematisiert. Darin fragt Yu Youfang: „Wisst ihr, was die Leute wirklich nervt?“. Die Antwort eines Schülers folgt auf dem Fuße: „Fragen mit einer rhetorischen Frage zu beantworten“. Im Anschluss fragt ein Schüler seinen Mitschüler: „Hast du meine Dritten gesehen?“, worauf dieser antwortet: „Hast du keine Augen im Kopf? Warum suchst du nicht selbst?“ Der Schüler schwingt daraufhin in einer humorvollen Geste wütend ein falsches Schwert – eine Anspielung auf ein unter jungen Leuten verbreitetes Meme. Auch dieser Sketch kommt bei der Netzgemeinde gut an. „Das ist echtes Leben pur“, schreibt ein Fan begeistert. 

 

In ihren humorvollen und sympathischen Clips bringen die Senioren auch immer wieder ganz aktuelle Themen aus den sozialen Medien zur Sprache. Es geht unter anderem um neueste Trendwörter, ChatGPT und sogar KI-Face-Swap bzw. Deepfakes. Damit widerlegen die Senioren eindrucksvoll das Klischee, dass alle alten Leute altmodisch und veränderungsresistent seien, und regen so das junge Publikum zum Nachdenken an. 

 

China Heutewar Anfang des Jahres bei einem der Videodrehs mit den Senioren live dabei. Regisseur Feng Yan hatte das Drehbuch in extragroßer Schrift gedruckt, und da die Laiendarsteller keine Schauspielerfahrung hatten, las er ihnen ihre Textzeilen Satz für Satz vor. Wenn sie gelegentlich ihren Text vergaßen, wiederholte Feng ihn geduldig immer und immer wieder und kürzte ihn bei Bedarf in kleinere Abschnitte. Auch als einer der Senioren sich verhaspelte und sich beschämt entschuldigte, war Feng äußerst einfühlsam und ermutigte ihn, es einfach ein weiteres Mal zu versuchen. Bei den Drehs entstehen so auch jede Menge lustige Outtakes. 

 

Feng ermutigt seine Seniorendarsteller außerdem dazu, Mimik und Gestik in ihre Darbietungen miteinfließen zu lassen, zum Beispiel wütend auf den Tisch zu schlagen. „Die Drehbücher stammen alle aus meiner Feder“, sagt der junge Filmemacher. Normalerweise dauere es 30 bis 40 Minuten, bis ein Sketch im Kasten sei. 

 

  


Tipps vom Profi: Regisseur und Drehbuchautor Feng Yan nimmt sich bei den Drehs viel Zeit für seine betagten Laiendarsteller. (Foto: Huang Yuhao) 

 

Hinter den Kulissen 

 

Im Jingya-Pflegeheim leben etwa 70 Senioren, das Durchschnittsalter liegt bei 80 Jahren. Etwa zehn Heimbewohner nehmen regelmäßig an den Videodrehs teil. Viele der Senioren hätten Grunderkrankungen wie Spinozerebelläre Ataxie, Halbseitenlähmung oder Blindheit, erzählt uns Feng. „Es sind trotzdem alle Senioren ausdrücklich willkommen, bei den Drehs mitzumachen, selbst wer Schwierigkeiten zum Beispiel beim Sprechen hat, kann als Statist im Hintergrund mitwirken“, betont er. 

 

Die Teilnahme am Filmen bringt den Senioren neue Hoffnung und Lebensfreude. Wang Li zum Beispiel erlitt einst einen Hirninfarkt, der zu einer halbseitigen Lähmung führte. Nach seiner Ankunft im Heim lehnte er jeden Kontakt zu anderen Bewohnern ab, zog es vor, alleine in der Ecke zu sitzen und zu rauchen. „Von den Clips wollte er anfangs nichts wissen, weil er sich in seiner Haut einfach nicht mehr wohlfühlte. Er beobachtete uns beim Dreh aber immer aus nächster Nähe. Am Ende machte er schließlich doch mit“, erzählt Feng. Seitdem sei Wang viel kontaktfreudiger geworden. In einer Aufnahme sagt er sogar: „Mein Leben, meine Entscheidungen.“ 

 

Die Dreharbeiten zu den Videos machen die Senioren wieder selbstbewusster. „Es ist letztlich nicht der Tod, den sie am meisten fürchten, sondern das Vergessenwerden durch die Gesellschaft“, sagt Feng. Die 87-jährige Liu Guoxia, eine ehemalige Textilarbeiterin, ist seit letztem Jahr in den Clips zu sehen. Sie erzählt uns: „Ich freue mich sehr, dabei zu sein. Ich bin zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Und das, obwohl ich nicht lesen kann“, sagt sie. „Meine Enkelin war ganz aus dem Häuschen, als sie mir sagte: ‚Oma, du bist im Fernsehen!‘ Viele meiner Verwandten, ehemaligen Kollegen und Nachbarn riefen mich nach meinem Auftritt an und wollten mich besuchen.“ Die sich häufenden Medieninterviews taten ihr Übriges. Heute sind das Pflegeheim und seine Bewohner allesamt kleine Berühmtheiten. 

 

Bei allem Trubel gilt aber nach wie vor: Der Spaß kommt an erster Stelle. Mittlerweile ist das Jingya-Pflegeheim in den sozialen Netzwerken auch als Gendu-Pflegeheim bekannt. Denn „gen“ heißt im Tianjin-Dialekt „lustig“ und „du“ steht für „Hauptstadt“. Die Laiendarsteller sind heute Sinnbild der positiven Lebenseinstellung im Heim. Einige der Senioren-Influencer haben sich gar schicke englische Namen zugelegt, beraten von einer englischen Internet-Berühmtheit. Wang Lis englischer Name ist Bob, Liu Guoxia heißt nun Katherine. „Am Ende geht es einfach nur um Spaß an der Freude. Doch es stimmt, dass die Drehs das Leben der Heimbewohner auch spannender machen“, sagt Feng. 

 

Nachdem das Pflegeheim berühmt geworden war, zogen Yu Youfang, Wang Li und zwei weitere bekannte Figuren aus den Kurzvideos in ein neues Pflegeheim mit besseren Bedingungen um. Dort drehen sie weiterhin Kurzvideos mit Chen Zhuo, während Feng Yan die anderen älteren Bewohner des Heims dazu ermutigt, ebenfalls mitzumachen. Gemeinsam setzen sie sich dafür ein, den Gendu-Geist zu verbreiten – das Altersheim als Spaßhauptstadt eben. 

 

Die innere Welt bereichern 

 

Nach Angaben des chinesischen Ministeriums für zivile Angelegenheiten vom Dezember 2023 belief sich die Zahl der über 60-Jährigen in China bis Ende 2022 auf 280 Millionen. Das entspricht rund 19,8 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Die Betreuung einer so großen Gruppe bleibt eine enorme Herausforderung. Zwar sei die Grundversorgung der Älteren durch die Gesellschaft sichergestellt, ihre innere Welt werde jedoch oft vernachlässigt, kritisieren Experten. Das steigere das Risiko für Vereinsamung und Depressionen. 

 

Das Jingya-Pflegeheim in Tianjin ist eines von vielen positiven Beispielen in China, wie sich das Leben von Senioren nachhaltig bereichern lässt. Kurzvideos drehen, Onlinegames zocken, Tanzen und traditionelle Gewänder anprobieren – derartige Aktivitäten, die früher lange der Jugend vorbehalten waren, halten nun Einzug in Chinas Pflegeheime. Die vielfältige Freizeitgestaltung hilft den Senioren, neue Hobbys zu finden, ihren Selbstwert zu erkennen und mit der Zeit zu gehen, wodurch ihre innere Welt bereichert und ihre mentale Leistungsfähigkeit erhalten bleibt. 

 

Pflegeheime wie das in Tianjin erkunden also neue Möglichkeiten für die Seniorenbetreuung, bei denen das psychische Wohl der Bewohner im Mittelpunkt steht. Ein Modell, das Schule machen dürfte. Nachdem die Kurzvideos aus dem Altersheim viral gegangen waren, haben viele Bürger den Wunsch geäußert, nach ihrer Pensionierung in einer ähnlich erbaulichen Umgebung alt zu werden. 

 

Feng sagt: „Unsere Videos könnten die letzten Aufnahmen der Bewohner sein. Wenn ihre Kinder sich die Clips nach dem Tod der Eltern ansehen, werden sie sich daran erinnern, dass ihre Eltern das Leben wirklich in vollen Zügen genossen haben. Allein dafür lohnt sich unsere Arbeit aus meiner Sicht. 

 

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